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Leseprobe
Auf der Suche nach einem Terminus für diese Art künstlerischer Werke sprach man früher von psychopathologischer Kunst, manche benutzten gedankenlos oder bewusst das Wort Irrenkunst, während Leo Navratil den Begriff zustandsgebundene Kunst bevorzugte, der besagt, „dass es sich um Werke handelt, die nicht im normalen Bewusstseinszustand des Alltags geschaffen wurden, sondern in einem Zustand, der durch einen anderen Grad zentralnervöser Erregung verändert worden ist.“
Schließlich setzte sich der von Jean Dubuffet geprägte Ausdruck Art Brut (rohe Kunst) durch, mit dem Dubuffet all jene Werke bezeichnete, die von Autodidakten sowie von Menschen fernab jeglicher Kunst- und Modeströmungen geschaffen wurden. Ein weiteres wesentliches Kriterium betraf laut Dubuffet den Aspekt, dass die Künstler ihre Arbeiten in erster Linie für sich selbst produzieren, ohne mit einem Platz in der Kunst- oder Galerieszene zu spekulieren – da sie eben Außenseiter sind. Deshalb definiert die englische Bezeichnung Outsider Art das Spektrum großzügiger und vielschichtiger. Das Privileg, das Dubuffet mit der Erfindung seiner Kunstgattung Art Brut ableitete, nämlich bestimmte Künstler damit auszuzeichnen, dass sie dazugehören, ihnen andererseits bei einem von ihm diagnostizierten „Fehlverhalten“ die Zugehörigkeit wieder abzuerkennen, erinnert an die Praktiken mancher Künstler- oder Autorengruppen, wie etwa bei den Surrealisten und Dadaisten üblich, wo ein „Oberhäuptling“ über Aufnahme und Ausschluss entschied. Nach dem Tod Dubuffets hat sich allerdings die Praxis der Einschätzung und Kategorisierung, wer aller der Art Brut zuzurechnen ist, erweitert und „liberalisiert“.
Der Psychiater Leo Navratil hat in den 1950er Jahren zu therapeutischen Zwecken Testzeichnungen mit seinen Patienten durchgeführt und im Verlauf vieler Tausender Testzeichnungen erkannt, dass einzelne seiner Patienten Werke zustande bringen, die außergewöhnlich sind, die etwas Eigenständiges besitzen, sodass er sich fragte, ob man diese Zeichnungen womöglich als Kunst bezeichnen könne und dürfe. Die Antwort suchte – und fand – Navratil unter anderem in den Veröffentlichungen von Hans Prinzhorn, der sich als Arzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg mit der „Bildnerei der Geisteskranken“ beschäftigt hatte. Das Buch gleichen Titels erschien 1922 und erweckte weniger bei Prinzhorns Fachkollegen Interesse, dagegen bei Künstlern sowie Kunstliebhabern, die von den Patientenzeichnungen tief beeindruckt waren, von deren Expressivität und Intensität des Ausdrucks. Das Buch, in dem sich Prinzhorn mit den Grenzbereichen künstlerisch-individueller Formen sowie den Gestaltungsmerkmalen von psychotisch erkrankten Menschen auseinandersetzte, war einer der ersten Versuche, die Schöpfungen psychisch Kranker zu analysieren.
aus "ver-rückt – art brut – outsider art" von Dagmar Chobot
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